So hat sich Deutschland seit der Flüchtlingskrise 2015 verändert Graphiken und Bewertungen

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Wo die Flüchtlinge von damals heute leben, wie gut sie integriert sind – und warum 2022 das eigentliche Rekordjahr der Zuwanderung war.

«Wir schaffen das» – mit diesem Satz rechtfertigte Angela Merkel im August 2015 ihre Entscheidung, Hunderttausende Asylsuchende und Kriegsflüchtlinge einreisen zu lassen.

Aber hat Deutschland es wirklich geschafft? Die NZZ zeigt in 15 Grafiken, welche Folgen die Flüchtlingskrise 2015/16 für Arbeitsmarkt, innere Sicherheit, öffentliche Finanzen und Demografie hatte.

Auch nach 2016 riss der Zustrom nicht ab

Zu- und Fortzüge, Deutschland (bis 1990 BRD)

Selten hat sich die Bevölkerungsstruktur Deutschlands in so kurzer Zeit so stark verändert. Allein 490 000 der Migranten, die 2015 und 2016 nach Deutschland kamen, waren Syrer – in der Regel Asylbewerber –, hinzu kamen 161 000 Afghanen, 133 000 Iraker und mehr als 200 000 Personen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit. Ausserdem zogen laut der amtlichen Statistik rund 1,6 Millionen Menschen aus EU-Staaten zu, vor allem aus Polen, Rumänien und Bulgarien.

Insgesamt wanderten so in nur zwei Jahren 4 Millionen Menschen ein, von ihnen stellten mehr als 1,2 Millionen einen Asylantrag.

Die Rekordjahre 2015/16 wurden nur noch von 2022 und 2023 übertroffen, als 4,6 Millionen Menschen einwanderten, unter ihnen rund 1,4 Millionen Ukrainer. Saldiert man Zu- und Fortzüge, ergibt sich für das Jahr 2022 ein Plus von fast 1,5 Millionen Menschen – mehr Nettozuwanderung gab es noch nie in den vergangenen siebzig Jahren.

Der Grund: Neben den Fluchtbewegungen aus der Ukraine und dem dauerhaft hohen Zuzug aus Rumänien, Polen und Bulgarien nahm ab 2022 auch die Zahl der Asylgesuche wieder zu, vor allem aus Syrien und der Türkei.

Warum viele Deutsche die Jahre 2015/16 dennoch als einschneidender im Gedächtnis haben dürften als die Fluchtbewegungen nach Beginn des Ukraine-Kriegs, zeigt die nächste Grafik. Denn vor 2015 war Migration nach Deutschland vor allem europäisch geprägt: Ab den späten 1950er Jahren wanderten zunächst Gastarbeiter aus Italien, Spanien und Griechenland zu, später aus der Türkei. Nach dem Zerfall des Ostblocks kamen vermehrt Polen, Serben, Kroaten, Bosnier. Ab 2014 verschob sich das Bild erstmals grundlegend – die Zuwanderung aus Staaten ausserhalb Europas nahm immer stärker zu.

Zwar kamen die meisten Migranten auch 2015/16 aus Europa. Doch viele Europäer – auch viele Deutsche – zogen wieder weg; im Saldo machten europäische Staatsangehörigkeiten nur noch knapp ein Drittel aus. 40 Prozent der Nettozuwanderung entfielen allein auf Syrien, Afghanistan und den Irak. Grössere Wanderungsbewegungen gab es auch aus Eritrea, Iran, Pakistan und Nigeria.

Syrer, Afghanen und Iraker prägten die Asylmigration in Deutschland noch viele Jahre. Das schlägt sich auch in der Wanderungsstatistik nieder: 2024 gab es immer noch rund 100 000 Zuzüge von Menschen mit syrischem Pass.

Ein Teil der Menschen, die 2015/16 Asyl beantragt hatten, ist inzwischen eingebürgert: Seit dem Jahr 2020 erhielten rund 300 000 Syrer, Afghanen und Iraker den deutschen Pass – zwei Drittel von ihnen allein in den Jahren 2023 und 2024. Mit der «Turbo-Einbürgerung» verkürzte die Ampelkoalition die Fristen in Einzelfällen auf nur drei Jahre.

Parallel stieg der Ausländeranteil in der Bevölkerung in Deutschland weiter: 2024 erreichte er mit knapp 15 Prozent einen neuen Rekord. Zugleich hatte in Westdeutschland jeder Dritte einen Migrationshintergrund, in Ostdeutschland war es jeder Neunte.

Wie stark sich die Zusammensetzung der Bevölkerung verändert hat, zeigt ein historischer Vergleich der fünf häufigsten ausländischen Staatsangehörigkeiten. Während 2014 Türken, Polen und Italiener die bundesdeutsche Rangliste bestimmten – in Ostdeutschland waren es zum Teil noch ehemalige Vertragsarbeiter aus Vietnam –, haben sich die Verhältnisse inzwischen verschoben.

2024 stellen Menschen mit türkischem Pass zwar weiterhin die grösste Gruppe, doch bereits auf Platz zwei stehen Ukrainer (1,3 Millionen) vor Syrern (975 000). Auch die Zahl der Rumänen hat sich in zehn Jahren nahezu verdreifacht.

Menschen mit syrischem Pass stellen auch in vielen Grossstädten inzwischen die grösste Gruppe unter der ausländischen Bevölkerung – etwa in Essen, Bochum, Bonn, Kiel, Regensburg oder Magdeburg. Auch in ländlichen Regionen, besonders im Nordosten, finden sie sich häufig unter den drei wichtigsten Ausländergruppen – das zeigt die folgende interaktive Karte.

Angela Merkels im Jahr 2016 geäusserte Erwartung, Syrer würden nach Kriegsende mit dem in Deutschland erworbenen Wissen «in ihre Heimat zurückkehren», hat sich bisher nicht erfüllt.

Zwischen 2014 und 2024 wanderten rund 1,06 Millionen Syrer ein, weniger als 170 000 verliessen das Land. Neuere Daten des Statistischen Bundesamts für die Monate nach dem Sturz des Asad-Regimes im Dezember 2024 liegen zwar noch nicht vor. Laut einem Medienbericht kehrten im ersten Halbjahr 2025 allerdings nur rund 4000 Syrer in ihre Heimat zurück. Ein Teil dürfte ohnehin dauerhaft im Land bleiben – das zeigt der starke Anstieg der Einbürgerungen seit dem Jahr 2020.

Hat die Zuwanderung zu mehr Straftaten geführt?

Der starke Zustrom von Asylmigranten, Kriegsflüchtlingen und anderen Schutzsuchenden ist nicht ohne Folgen für das Sicherheitsgefühl der Bundesbürger geblieben. In einer repräsentativen Umfrage der R+V-Versicherung aus dem vergangenen Jahr zu den Ängsten der Deutschen gaben 56 Prozent der Befragten an, sie fürchteten, die hohe Zahl an Geflüchteten überfordere den Staat. 51 Prozent sagten, sie fürchteten sich vor Spannungen durch den Zuzug von Ausländern.

Tatsächlich stieg im Jahr 2016 die Zahl der sogenannten Rohheits- und Freiheitsdelikte deutlich an; bei zwei Dritteln der Fälle handelt es sich laut dem Bundeskriminalamt (BKA) um Körperverletzung, hinzu kommen Raub sowie Nötigung, Bedrohung und Freiheitsberaubung. Die Zunahme ist laut den BKA-Zahlen massgeblich «Zuwanderern» zuzurechnen. Das BKA definiert diese als Asylbewerber und sonstige Schutzberechtigte, Geduldete sowie Menschen mit unerlaubtem Aufenthalt.

In den Jahren danach war die Zahl der Rohheitsdelikte zunächst abgeebbt. Seit 2022 schwillt sie wieder an. Das Bundeskriminalamt begründet dies mit dem Ende der Corona-Lockdowns. Dadurch hätten sich wieder mehr Ausländer auf den Weg nach Deutschland gemacht. Zudem bewegen sich seither wieder mehr Menschen im öffentlichen Raum, was zusätzliche Tatgelegenheiten schaffe.

Bei zahlreichen Delikten sind Zuwanderer deutlich überrepräsentiert. 2017 stellten diese bei Sexualdelikten laut dem BKA rund 12 Prozent der Tatverdächtigen. Zudem war an 12 Prozent der aufgeklärten Fälle mindestens ein tatverdächtiger Zuwanderer beteiligt. Gleichzeitig lag ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung – ohne Menschen mit unerlaubtem Aufenthalt – bei lediglich 2 Prozent.

Die Zahl der Rohheits- und Freiheitsdelikte, die auf das Konto von Zuwanderern gehen, ist seit der Flüchtlingswelle 2015/16 hoch geblieben. 2024 waren sie für ein Zehntel dieser Straftaten sowie für 8 Prozent aller Sexualdelikte verantwortlich.

Dabei zeigen sich grosse Unterschiede zwischen den Zuwanderern je nach Staatsangehörigkeit. Blickt man auf die Allgemeinkriminalität ohne ausländerrechtliche Verstösse, haben Syrer, Afghanen und Iraker die grössten Anteile an den tatverdächtigen Zuwanderern. Gemessen an ihrem hohen Anteil an den Geflüchteten, sind Syrer und Iraker allerdings leicht, Ukrainer sogar deutlich unterrepräsentiert.

Anders verhält es sich bei den Zuwanderern aus den Maghrebstaaten. Algerier machten 2023 zwar nur 0,2 Prozent der Schutzsuchenden aus, unter den tatverdächtigen Zuwanderern entfielen jedoch 3,6 Prozent auf sie – das ist rund 18-mal so häufig, wie es ihrem Anteil entspricht.

Auffällig ist der Unterschied bei den Ukrainern: Obwohl sie 2023 den mit Abstand grössten Anteil an den Geflüchteten stellten, war ihr Anteil unter den tatverdächtigen Zuwanderern mit knapp 12 Prozent vergleichsweise niedrig. Ein Grund dürfte die Geschlechterstruktur sein: Die meisten erwachsenen Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine sind Frauen. Anders war die Situation 2015/16 bei Asylsuchenden aus Syrien, dem Irak und Afghanistan: Damals waren rund zwei Drittel männlich und die Mehrheit jünger als 30 – eine Gruppe, die statistisch häufiger straffällig wird.

Bei den Zuwanderern aus den Maghrebstaaten dürfte zudem Perspektivlosigkeit eine Rolle spielen – zu diesem Schluss kommen die Autoren einer kriminologischen Studie über Flüchtlingskriminalität. Dort heisst es, dass Flüchtlinge aus Algerien, Tunesien und Marokko – anders als jene aus Syrien – «bald nach ihrer Ankunft in Deutschland eine massive Enttäuschung verarbeiten: Für sie gibt es weder ein Bleiberecht noch eine Arbeitserlaubnis.»

Es gibt allerdings noch weitere Gründe, warum einige Nationalitäten statistisch auffällig sind. Neben einem geringen Bildungsniveau, Armut und Gewalterfahrungen verweisen Forscher auch auf kulturell geprägte «gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen». Ein Gutachten im Auftrag des Bundesfamilienministeriums kommt zu dem Ergebnis, dass junge männliche Migranten aus muslimischen Herkunftsländern solche Normen deutlich häufiger verinnerlicht haben als gleichaltrige Deutsche.

Welche Chancen haben die Flüchtlinge in Schule und Beruf?

Die Flüchtlinge von heute würden die «Fachkräfte von morgen» sein – neben Merkels «Wir schaffen das» war das der zweite zentrale Satz der deutschen «Willkommenskultur». Andrea Nahles (SPD), damals Bundesarbeitsministerin, sprach ihn auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise im September 2015 als eine der Ersten aus. Auch der damalige Daimler-Chef Dieter Zetsche war sich sicher: «Genau solche Menschen suchen wir bei Mercedes und überall in unserem Land.» Womöglich könnten sie sogar «eine Grundlage für das nächste deutsche Wirtschaftswunder» schaffen, sagte Zetsche.

Die Realität sah anders aus. Neun Monate später hatte der DAX-Konzern gerade einmal neun Flüchtlinge fest angestellt. Eine Befragung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zeigt, warum: Zwar hatten die meisten Asylmigranten, die zwischen 2013 und 2016 kamen, eine Schule besucht, doch nur 58 Prozent hatten diese auch abgeschlossen. Studien- oder Berufsabschlüsse aus dem Ausland konnten lediglich 16 Prozent vorweisen – ein Problem auf einem Arbeitsmarkt wie dem deutschen, der stark an Zertifikaten orientiert ist.