Sehr gute und eindrucksvolle Bewertung zur Steinmeier Rede.
Stimme zu 100% zu. Das ist nicht mein Land, wenn Präsidenten nicht mehr neutral gegenüber allen Bundesbürgern stehen und indirekt SPD Wahlhilfe geben.
Hier bedarf es dringend einer Anpassung an das Amt.

Oliver Sieh
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Frank-Walter Steinmeiers Rede zum 9. November 2025 ist für viele – auch für mich- der absolute Tiefpunkt des Bundespräsidentenamtes – und zwar nicht, weil sie „gegen Rechtsextremismus“ wäre, sondern weil sie den 9. November zur Bühne für einen politisch motivierten Feldzug gegen eine missliebige Oppositionspartei umfunktioniert. Wer länger in der Politik war, hört sofort, was nicht gesagt wird, aber mitläuft: Diese Rede ist kein Mahnwort über allen Lagern, sondern ein Signal an Regierung, Behörden und eigenes Milieu, jetzt „mit allen Mitteln“ gegen einen politischen Konkurrenten vorzugehen.
Der erste Bruch liegt im Missbrauch des Datums. Der 9. November steht für 1918, 1938 und 1989 – Revolution, Pogromnacht, Mauerfall. Bisher haben Bundespräsidenten diesen Tag genutzt, um gemeinsame Erinnerung zu stiften, Widersprüche auszuhalten und am Ende eine Klammer für alle Bürger zu schlagen, ob links oder rechts, gläubig oder atheistisch, konservativ oder progressiv. Steinmeier macht etwas anderes: Er zieht die maximale moralische Aufladung aus 1938 („Nie wieder“, Shoah, Antisemitismus), legt 2023/2025 darüber – und biegt dann direkt auf die innenpolitische Hauptstraße ab: rechtsextreme Kräfte, Extremisten, Parteiverbot, Ausschluss aus dem Staatsdienst. Der Schritt von der Reichspogromnacht zu „AfD-Verbot prüfen“ ist in dieser Rede kein Missverständnis, er ist das dramaturgische Zentrum. Das ist kein Gedenken, das ist Munitionierung.
Zweiter Bruch: die Rolle des Bundespräsidenten. Das Amt soll überparteilich sein, Hüter der Form, nicht Lautsprecher eines Milieus. Steinmeier stellt sich in dieser Rede aber offen an die Seite eines politischen Lagers. Er übernimmt nahezu eins zu eins den Sprachduktus jener Kreise, die seit Jahren zuerst „ignorieren“, dann „ausgrenzen“ und nun „verbieten“ als Strategie gegenüber der AfD diskutieren. Wenn er ausführlich über Parteiverbot als „Ausdruck der wehrhaften Demokratie“ spricht, wenn er „Verfassungsfeinde“ aus Lehrerzimmern, Gerichtssälen, Kasernen und Rathäusern entfernen will, dann ist das kein abstrakter staatsrechtlicher Vortrag, sondern eine Handreichung an Innenminister, Verfassungsschutz und Parteifreunde: Ihr habt die Instrumente, nutzt sie. So spricht kein Staatsoberhaupt über allen Lagern, so spricht ein Kanzlerkandidat im Wahlkampf – nur ohne die offene Ehrlichkeit, dazu zu stehen.
Dritter Bruch: die Umdeutung der „wehrhaften Demokratie“. Der ursprüngliche Gedanke war: Demokratie darf sich nicht noch einmal wie in Weimar mit ihren eigenen Mitteln abschaffen lassen. Deshalb gibt es hohe Hürden für Parteiverbote und klar definierte Grenzen für Verfassungsfeinde im Staatsdienst. Steinmeier dreht dieses Schutzkonzept in ein Lenkungskonzept. Er zeichnet eine Gesellschaft, in der Behörden, Schulen, Universitäten, Polizei, Bundeswehr, Bürgermeisterämter flächendeckend durchkämmt werden sollen nach korrekter Gesinnung: Wer dem „Wertekanon des Grundgesetzes“ – wie er ihn versteht – nicht aktiv zustimmt, soll dort keinen Platz mehr haben. Nicht Neutralität im Amt zählt, sondern die richtige Haltung. Damit verschiebt er den Schwerpunkt weg von Freiheitsschutz hin zu Meinungskontrolle.
Vierter Bruch: das „Wir“ in dieser Rede. Steinmeier spricht unaufhörlich von „wir“ und „uns“, von „unserem Land“, „unserer Demokratie“ und „unseren Werten“. Aber dieses „Wir“ ist kein offenes Wir. Es ist ein ideologisches Wir. Wer Migration kritisch sieht, wer die Folgen von 2015 nicht mehr hinnehmen will, wer sich mit der aktuellen Wirtschafts-, Energie- oder Außenpolitik nicht identifizieren kann, wer eine andere Erzählung von Nation und Identität hat, wird in dieser Rede nicht als legitimer Teil des demokratischen Spektrums angesprochen, sondern als Risiko, als Rand, als etwas, das eingefangen, zurückgeführt oder ausgegrenzt werden muss. Das gleiche Schema liegt seinem Buch „Wir“ zugrunde: Zum Wir gehört, wer das rot-grüne Programm unterschreibt; der Rest ist Abweichler, Problemfall, Objekt pädagogischer Bearbeitung. Diese Logik durchzieht Satz für Satz auch die 9.-November-Rede.
Fünfter Bruch: der Umgang mit Opposition. Steinmeier spricht von „Extremisten“, „rechtsextremen Kräften“, von Brandmauern und der Pflicht, mit diesen Kräften weder zu regieren noch in Parlamenten zusammenzuarbeiten. Formal nennt er keine Partei, jeder, der politisch nicht völlig weltfremd ist, weiß, wer gemeint ist. Ein Bundespräsident, der eine Partei, die in manchen Ländern bei 30, 35 oder 40 Prozent liegt, faktisch aus dem Kreis der „legitimen Demokraten“ herausschreibt und ihre Zusammenarbeit mit allen anderen als Tabu erklärt, überschreitet eine Grenze. Er spricht Millionen Bürgern nicht nur politisch, sondern moralisch das Recht ab, anders zu wählen. Dass er dabei ständig von „freier Wahl“ und „Demokratie“ redet, ändert nichts daran: Inhaltlich geht es darum, die demokratische Wahlmöglichkeit real zu verengen, indem man eine Option stigmatisiert und staatlich bekämpft.
Sechster Bruch: die Verschiebung von Sicherheit zu Meinungslenkung. Wenn Steinmeier von Social Media spricht, redet er nicht über konkrete Straftaten, sondern über „Algorithmen, die Empörung und Krawall verstärken“, über „Hass“, „Hetze“ und „Lügen“, die angeblich die Demokratie unterhöhlen. Die Konsequenz, die er nahelegt, sind „wirksame Regeln“ und „intelligente Tools“, die Menschen „zusammenbringen“ sollen. Übersetzt: mehr Regulierung, mehr Eingriff in den digitalen Diskurs, mehr Macht für Plattformen, Behörden und „Faktenchecker“, darüber zu entscheiden, was Demokratie fördert und was angeblich gefährdet. Er spricht nicht davon, die Freiheit des Wortes zu verteidigen, sondern davon, die richtigen Inhalte zu verstärken und die falschen zu bekämpfen. Das ist nicht wehrhafte Demokratie, das ist wohltemperierte Demokratie – zugeschnitten auf den Geschmack seines Milieus.
Siebtens: der Kontrast zu seinen Vorgängern. Weizsäcker, Herzog, Rau, Köhler – sie alle haben vor Rechtsextremismus gewarnt, und das war richtig und wichtig. Aber sie haben sich gehütet, einen halben politischen Raum mit der Sprache der Strafjustiz und Parteiverbotsrechtsprechung zu belegen. Ihre großen Reden waren Rufe nach Freiheit, Eigenverantwortung, innerer Erneuerung, nicht nach mehr Disziplinierung durch Staat und Institutionen. Sie haben die Extreme benannt, aber sie haben nicht den Versuch unternommen, über das Etikett „extremistisch“ eine ganze Richtung des demokratischen Spektrums aus dem Spiel zu nehmen. Genau das tut Steinmeier. Er stellt sich stilistisch in die Tradition der alten Bundespräsidenten, inhaltlich bricht er mit ihnen.
In der Summe ist diese 9.-November-Rede weniger eine Ansprache des Staatsoberhaupts an ein Volk, das in Unsicherheit und Spaltung steckt, sondern die Kampfansage eines Milieuvertreters an einen politischen Gegner. Sie instrumentalisiert die dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte, um eine aktuelle Oppositionspartei moralisch in die Nähe der Zerstörer der Weimarer Republik zu rücken. Sie legt die Instrumente der wehrhaften Demokratie auf den Tisch, nicht als nüchterne Warnung vor allen Extremen, sondern erkennbar auf eine konkrete Richtung zentriert. Sie spricht viel von Freiheit, nutzt dieses Wort aber vor allem, um deren Einhegung und Kanalisierung zu rechtfertigen.
Wer das Bundespräsidentenamt als letzte Instanz der Mäßigung, der Distanz zum Tageskampf und der Verteidigung der Freiheitsräume verstanden hat, muss diese Rede als Tiefpunkt empfinden. Nicht, weil sie „gegen Rechts“ ist – das waren andere Bundespräsidenten auch –, sondern weil sie den Schritt gegangen ist, eine demokratisch gewählte, große Oppositionskraft im Schatten von 1938 rhetorisch in Richtung „Feind der Ordnung“ zu schieben und dafür die ganze moralische Bühne des 9. November zu nutzen. An diesem Punkt hört der Bundespräsident auf, Bundespräsident aller zu sein, und wird zu genau dem, als was ich ihn empfinde: einem Sprecher seines Milieus, der die Macht seines Amtes benutzt, um die politische Landkarte nach seinem Bild zu sortieren, anders ausgedrückt, eine Fehlbesetzung.
Er ist nicht mein Präsident, er redet über ein Deutschland, in dem ich nicht leben möchte.
