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Recherchen und freigeklagte Atomkraft-Akten belegen, wie ein Netzwerk von Grünen-Politikern und Anti-Atom-Ideologen manipulativ die Abschaltung der Kernkraftwerke durchsetze: gegen die Faktenlage und gegen die Vernunft. Eine filzartige Clique in Grünen-Ministerien sabotierte Deutschland.
von Daniel Gräber
Jürgen Trittin feierte den 15. April 2023 vor dem Brandenburger Tor. Es war der Triumph seines Lebens. Für die Kameras posierte er vor einem gelben Dinosaurier, der mit nach oben gestreckten Beinen auf dem Pariser Platz lag. Auf dessen Bauch kniete ein rotes Männchen mit der strahlenden „Atomkraft? Nein Danke“-Sonne als Gesicht. In der einen Hand ein Schwert, in der anderen das altbekannte Emblem als Schild. Trittin, der Drachentöter, lächelte zufrieden und etwas müde. Es war der Tag, an dem die letzten deutschen Kernkraftwerke abgeschaltet wurden. Der mehr als ein halbes Jahrhundert währende politische Kampf gegen den „Atomstaat“ schien endlich gewonnen.
Beinahe wäre dem Grünen, der als Umweltminister unter Kanzler Schröder das Ende der Nuklearenergie Anfang der 2000er besiegelte und bis zuletzt als Bundestagsabgeordneter darüber wachte, die bittere Launenhaftigkeit der Geschichte dazwischengekommen. Denn schon vor Russlands Angriff auf die Ukraine wuchs in vielen Industrieländern die Erkenntnis, dass allein mit wetterabhängigen Energiequellen wie Wind und Sonne der Abschied von Kohle, Gas und Öl nicht gelingen wird. Die Atomkraft erlebt gerade im Zuge der Klimaschutzdiskussion eine weltweite Renaissance. Als Deutschlands „Energiewende“, die geradewegs in die Abhängigkeit von russischem Erdgas geführt hatte, mit Putins Krieg zum akuten Versorgungs- und Sicherheitsproblem für ganz Europa wurde, setzte selbst in der Bundesrepublik eine zaghafte Debatte darüber ein, ob der Atomausstieg verschoben oder aufgegeben werden sollte.
Für viele Bürger nach wie vor ein Rätsel
Doch daraus wurde nichts. Während europäische Nachbarn und Partner ihre Ausstiegspläne gestoppt haben und neue Kernkraftwerke bauen wollen, hat Deutschland seine letzten, die zu den sichersten und zuverlässigsten der Welt zählen, mitten in einer Energiekrise stillgelegt. Wie das geschehen konnte, ist für viele Bürger nach wie vor ein Rätsel.
Um mehr herauszufinden, hat die Redaktion Akteneinsicht nach dem Umweltinformationsgesetz beantragt und mit einer Klage gegen das von Robert Habeck geführte Wirtschaftsministerium durchgesetzt. Während der mündlichen Verhandlung im Januar 2024 argumentierten Habecks Beamten überraschend ehrlich: Der deutsche Sonderweg bei der Kernenergie müsse „zukünftig sowohl gesellschaftlich als auch gegenüber den internationalen und europäischen Partnern verteidigt werden“, werden sie im Protokoll zitiert. „Die Verhandlungspartner der Bundesregierung könnten der Bundesregierung – bei einer Offenlegung der Dokumente – die entwickelten Argumente entgegenhalten.“ Überzeugt hat das den Richter nicht. Sein Urteil: Habecks Geheimhaltung war rechtswidrig, die Dokumente müssen herausgegeben werden.
Schwach begründet und kaum belegt
Die beiden gut gefüllten Aktenordner, die wir Ende März – zusätzlich zu den zuvor herausgegebenen Unterlagen – erhalten haben, bestehen aus internen E-Mails, Vermerken, Gesprächsprotokollen und Briefen. Manche Dinge, etwa die verkorkste Erfindung einer AKW-„Einsatzreserve“, sind detailliert dokumentiert. Andere Entscheidungen wirken schwach begründet und kaum belegt. Entweder sind die Akten unvollständig oder es wurden wichtige Absprachen nur mündlich getroffen.
Was die Unterlagen eindeutig zeigen: Die Expertise der mit Steuergeld bezahlten Fachleute im eigenen Ministerium spielte kaum eine Rolle. Meistens wurden sie gar nicht erst gefragt. Der mit Grünen-Parteisoldaten besetzte Führungszirkel des Wirtschafts- und des für nukleare Sicherheit zuständigen Umweltministeriums hat alle wesentlichen Schritte unter sich ausgemacht. Wenn die Fachreferate beider Ministerien doch mal ihre Einschätzung mitteilen durften, wurde diese meist übergangen – oder gezielt verfälscht. Wer stattdessen immer Gehör fand: die Partei und die Bundestagsfraktion der Grünen. Deren Ziel war es von Anfang an, einen Ausstieg vom Ausstieg zu verhindern. Koste es, was es wolle.
Die zentralen Figuren im monatelangen Gezerre
Noch am Tag des russischen Einmarschs in die Ukraine, dem 24. Februar 2022, trafen sich Wirtschaftsminister Robert Habeck und sein damaliger Staatssekretär Patrick Graichen mit dem Chef des Energiekonzerns RWE, Markus Krebber, zu einem vertraulichen Gespräch. Es ging um Gas. Und um Kernenergie. Denn RWE gehören zwei der sechs letzten deutschen Kernkraftwerke. Eines davon, Gundremmingen C in Bayern, war erst zum Jahreswechsel abgeschaltet worden. Das andere, KKW Emsland in Niedersachsen, lief damals noch.
In den Akten befindet sich kein Protokoll dieses Gesprächs, nur eine E-Mail, die Krebber zwei Tage später an Habeck und Graichen schickte. „Wie erbeten füge ich ein Papier bei, das die komplexen Aspekte beschreibt, die bei etwaigen Überlegungen zum Weiterbetrieb von Kernkraftwerken zu berücksichtigen wären“, schrieb der RWE-Vorstandsvorsitzende und betonte: Wie man das Thema beurteile, „kann nur politisch entschieden werden“. Das von Krebber beigefügte Papier liest sich neutral. Es hätte auch ein Ministerialbeamter geschrieben haben können. Dass es von RWE stammt, ist nicht zu erkennen.
Patrick Graichen war damit wohl zufrieden. Denn er leitete es am 28. Februar an Stefan Tidow weiter, seinen Staatssekretärskollegen im Umweltministerium, und schrieb dazu:
„Lieber Stefan, anbei, wie besprochen, die Anmerkungen der Betreiber zum Thema Laufzeitverlängerung. Es steht zwar kein Fazit drunter, aber im Grunde ist klar: Sie wollen das nicht. So was bräuchte es letzten Endes auch von der Atomaufsicht. Und dann ist die Frage, wer das mal auf welchen offiziellen Briefkopf packt. Besten Gruß Patrick“
Graichen und Tidow kennen sich noch aus ihrer gemeinsamen Zeit im Umweltministerium. Graichen arbeitete dort von 2001 bis 2012, bevor er die Lobbyorganisation „Agora Energiewende“ leitete. Stefan Tidow hatte im Parlaments- und Regierungsbetrieb der Grünen schon einige Posten inne. Er war mal Referent im Umweltministerium und 2016 unter Graichen als Chef „Projektleiter Industriepolitik“ bei Agora. 2021, mit dem Regierungsantritt der Ampelkoalition, erreichten beide den Höhepunkt ihrer Karriere und wurden beamtete Staatssekretäre. Graichen, der mittlerweile entlassen wurde, war in Habecks Wirtschaftsministerium für Energiepolitik zuständig. Tidow untersteht im von Parteifreundin Steffi Lemke geführten Umweltministerium die Atomaufsicht.
Die zwei grünen Staatssekretäre waren die zentralen Figuren im monatelangen Gezerre um die AKW-Laufzeitverlängerung. Sie tauschten sich ständig aus, sprachen – den E-Mails zufolge – mehr miteinander ab als mit ihren Ministern. Und sie waren sich von vornherein einig: Ein Abrücken vom Atomausstieg darf es nicht geben. Fachliche Argumente, die dafürsprechen, sollten gar nicht erst bekannt werden. Nicht einmal dem eigenen Minister.
Habeck verbreitete die Unwahrheit
Öffentlich äußerte sich Robert Habeck am 27. Februar zum ersten Mal zur plötzlich aufgekommenen Kernkraftfrage. Bei einem Interview in der ARD-Sendung „Bericht aus Berlin“ wurde er gefragt, ob er sich vorstellen könne, die Atomkraftwerke länger am Netz zu lassen. „Es gehört zur Prüfungsaufgabe auch meines Ministeriums, auch diese Frage zu beantworten“, antwortete er und fügte schnell hinzu, dass eine Laufzeitverlängerung für den kommenden Winter nicht helfen würde, da die „Atomkraftwerke nur unter höchsten Sicherheitsbedenken und möglicherweise mit noch nicht gesicherten Brennstoffzulieferungen weiterbetrieben werden könnten“. Habeck verbreitete damit, entweder absichtlich oder weil er es nicht besser wusste, die Unwahrheit. Dann folgte ein Satz, der aufhorchen ließ: Die Frage sei „eine relevante, ich würde sie nicht ideologisch abwehren“.
Dies war bemerkenswert, weil Kenner der Grünen dem damals frisch ins Amt gekommenen Minister und Medienliebling zutrauten, seine Partei von ihrer Anti-Atom-Erblast zu befreien. So wie es den finnischen Grünen gelungen ist, die sich aus Klimaschutzgründen für diese Spitzentechnologie einsetzen – nicht als Gegensatz zu den Erneuerbaren, sondern als technisch und wirtschaftlich sinnvolle Ergänzung.
Wer hat ihn überhaupt gelesen?
Doch Habeck hatte zu viel versprochen. Er wollte oder konnte sich nicht gegen die Ideologen durchsetzen. Er ließ lieber stillgelegte Kohlekraftwerke reaktivieren und dachte über schwimmende Erdölkraftwerke nach, statt den Machtkampf mit Altvorderen wie Trittin zu wagen, die den Kampf gegen die Atomkraft als politisches Lebenswerk sehen. Diese Grünen – das machen die AKW-Akten aus Habecks Ministerium deutlich – haben über Jahrzehnte hinweg ein dichtes, filzartiges Netzwerk gebildet, das die deutsche Energiepolitik beherrscht. Und nun, während das Scheitern dieser Politik offensichtlich wird und die wirtschaftliche Zukunft des Landes bedroht, sitzen sie an den Schalthebeln der Macht.
Am Tag nach Habecks Fernsehinterview schrieb Robert Heinrich, der Leiter des Leitungs- und Koordinierungsstabs im Wirtschaftsministerium, eine E-Mail an Volker Oschmann. Der Jurist Oschmann begann seine Beamtenkarriere im Umweltministerium unter Jürgen Trittin und arbeitete dort am Erneuerbare-Energien-Gesetz. Nachdem der Sozialdemokrat Sigmar Gabriel 2013 die Zuständigkeit für die Energiewende ins Wirtschaftsministerium holte, wechselte der Grüne Oschmann mit. Habeck machte ihn Anfang 2022 zum Leiter der Stromabteilung, deren bisherige Leiterin er entließ. Nun erhielt Oschmann folgenden Auftrag:
„Lieber Volker, wir benötigen einen Hausvermerk, der das Ergebnis der Prüfung der Frage ‚Kann eine AKW-Laufzeitverlängerung in der derzeitigen Situation helfen, die Energiesicherheit zu erhöhen‘ verschriftlicht und mit dem wir sowohl intern als auch öffentlich arbeiten können. Der Minister hat ja gestern öffentlich angekündigt, dass es geprüft wird. Könnt ihr das zügig auf den Weg bringen? (Falls es das nicht schon gibt). Herzlichen Dank Viele Grüße! Robert Heinrich, LA“
Was dann geschah, lässt sich in den Akten nicht eindeutig nachvollziehen. Es findet sich darin zwar ein Vermerk des zu Oschmanns Abteilung gehörenden Referats für Versorgungssicherheit und Stromgroßhandel. Merkwürdigerweise ist aber, anders als bei den meisten anderen Unterlagen, nicht dokumentiert, was mit diesem Vermerk geschah. Wer hat ihn mit welchen Anmerkungen an wen weitergeleitet? Wer hat ihn überhaupt gelesen?
Diese Fragen sind von politischer Brisanz. Denn auf den vier Seiten legten die Experten aus dem Wirtschaftsministerium klar und fachkundig dar, weshalb eine AKW-Laufzeitverlängerung dabei helfen kann, im kommenden Winter Gas zu sparen und kritische Situationen im Stromnetz zu vermeiden. Sie führten genau die Argumente aus, die nach monatelangem Hin und Her und einem handfesten Koalitionskrach dazu führten, dass die Ampelkoalition schließlich doch eine Mini-Laufzeitverlängerung für dreieinhalb Monate beschloss. Nun stellt sich heraus: Diese Argumente lagen von Anfang an auf dem Tisch. Gut aufbereitet von verbeamteten Fachleuten, deren Aufgabe es ist, das Wohl des ganzen Landes im Blick zu behalten, nicht das einer Partei. Sie schrieben am 3. März 2022:
„Für die Versorgungssicherheit besonders relevant sind winterliche Hochdrucklagen im Januar und Februar. Dann treten aufgrund niedriger Temperaturen und einer geringen Windstromerzeugung regelmäßig die höchsten Residuallasten auf.“
Zur Erklärung: Residuallast ist der Anteil am Strombedarf, der nicht durch Wind und Sonne gedeckt wird.
„Es ist heute unklar, ob für den nächsten Winter ausreichend Erdgas eingespeichert werden kann, um einen tagelangen Betrieb von Gaskraftwerken neben dem Verbrauch in der Industrie und zur Wärmeversorgung zu ermöglichen. (…) Eine Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke bis zum 31.3. kann helfen, diese Situation zu entschärfen. (…) Zudem ist es äußerst risikoreich, die Stromerzeugung aus Erdgas im nächsten Winter ausschließlich durch die zusätzliche Stromerzeugung aus Reserven und bereits stillgelegten Kohlekraftwerken zu stützen.“
Auch die positiven Auswirkungen einer Laufzeitverlängerung auf die Strompreise haben die Ministerialbeamten klar benannt. Zum einen würden ohne Kernkraftwerke die Kosten der Netzstabilisierung „stark ansteigen“. Zum anderen:
„Da sich die Kernenergie mit sehr geringen variablen Kosten am unteren Ende der Merit-Order einordnet, verdrängt ihr Einsatz teurere Grenzkraftwerke aus der Merit-Order. Da die Residuallast vor allem in den Monaten Januar und Februar besonders hoch ist, ist zu erwarten, dass die Kernenergie häufig Gaskraftwerke verdrängt. Dadurch könnten die Strompreise in vielen Stunden sinken.“
Das Merit-Order-Prinzip der Strombörse besagt, dass das teuerste noch benötigte Kraftwerk den Preis setzt. Und da die deutschen Kernkraftwerke nicht nur zuverlässig, sondern auch günstig Strom produzieren, schieben sie die teuersten Kraftwerke quasi aus dem Marktgeschehen heraus. Auf diesen Zusammenhang machten auch prominente Ökonomen immer wieder aufmerksam, während der Wirtschaftsminister und andere Spitzen-Grüne bis in den Sommer hinein behaupteten, wir hätten kein Stromproblem, sondern ein Gasproblem.
Das stimmte damals vielleicht noch. Doch hätte Habeck in dem Vermerk seiner Fachabteilung nachlesen können, dass spätestens im Winter aus dem Gas- ein Stromproblem zu werden droht – und dass dagegen die Laufzeitverlängerung hilft. Hätte er? Wenn es der Wahrheit entspricht, was seine Pressestelle nun gegenüber der Redaktion behauptet, bekam der Minister diesen wichtigen Vermerk nicht zu Gesicht: Das bislang geheim gehaltene und von uns freigeklagte Dokument „lag in der Leitungsebene nur Staatssekretär Patrick Graichen vor“. Hatte der es in der Schublade verschwinden lassen?
Im Mai 2023 entließ Habeck seinen selbst- und machtbewussten Energie-Staatssekretär. Offizieller Anlass war dessen Trauzeugenaffäre. Der öffentliche und koalitionsinterne Druck war zu groß geworden. Doch hätte Habeck nicht früher bemerken müssen, dass Graichen ihm politisch schadete? Warum ließ er ihn so lange gewähren? Eine Erklärung lautet: Weil das Netzwerk der eingefleischten Energiewende-Verfechter innerhalb der Grünen sehr einflussreich ist. Auch Jürgen Trittin zieht im Hintergrund immer noch den ein oder anderen Faden. Und Habeck braucht diese Leute, weil er weiterhin davon träumt, Kanzler zu werden.
Vermerk umgeschrieben
Nicht nur im Wirtschafts-, sondern auch im Umweltministerium wurden Fachleute ausgebremst. Die obersten Atomaufseher des Landes arbeiten dort in der Abteilung S „Nukleare Sicherheit, Strahlenschutz“. Zum Leiter dieser Abteilung machte die neue Ministerin Steffi Lemke im Februar 2022 einen entschiedenen Kernkraftgegner. Der Fachjurist Gerrit Niehaus war früher bereits im Umweltministerium tätig gewesen. Als 2011 die Grünen in Baden-Württemberg an die Macht kamen, holte ihn der damalige Landesumweltminister in die Atomaufsicht nach Stuttgart. Gut zehn Jahre später warb ihn Lemke wieder ab und lockte ihn zurück nach Berlin.
Aus Sicht der Grünen hat sich diese Personalentscheidung gelohnt. Denn kaum im Amt, zeigte Niehaus, wozu er geholt wurde: Als Abteilungsleiter schrieb er einen Vermerk der ihm untergebenen Fachleute so um, dass er zum politisch vorgegebenen Ziel passte. Wer die beiden Versionen nebeneinanderlegt, kommt ins Staunen.
Der erste Vermerk ist von zwei Referenten und einem Referatsleiter gezeichnet und stammt vom 1. März 2022. Unter der Überschrift „Laufzeitverlängerung deutscher Kernkraftwerke – Mit der nuklearen Sicherheit verträgliche Szenarien“ wurde darin dargelegt, was aus technischer Sicht möglich gewesen wäre. Die Verfasser beschreiben einen Weiterbetrieb der damals noch laufenden Atomkraftwerke „über mehrere Jahre“ als „mit der Aufrechterhaltung der nuklearen Sicherheit vereinbar“ und legen dar, welche Schritte dazu notwendig wären. Beraten hatten sie sich mit der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS), an der auch der Bund beteiligt ist und die die beste Expertise in diesen Fragen hat.
Diesen Vermerk bekam Gerrit Niehaus auf den Tisch und muss sehr unzufrieden gewesen sein. Denn er schrieb ihn komplett um. Zunächst ersetzte er überall das Wort „Kernkraft“ durch „Atomkraft“. Dann machte er sich daran, die Kernbotschaft des Vermerks in ihr Gegenteil zu verkehren.
In der neuen Version vom 3. März – die nicht mehr namentlich, sondern nur mit „Abteilung S“ gezeichnet ist – fehlte die Aussage, dass eine echte Laufzeitverlängerung mit neuen Brennstäben für mehrere Jahre sicherheitstechnisch möglich wäre. Stattdessen stand dort ganz oben und fett gedruckt:
„Die Abteilung S (Nukleare Sicherheit, Strahlenschutz) kommt zu dem Ergebnis, dass die Verlängerung der Laufzeit der drei noch laufenden Atomkraftwerke über den gesetzlich festgelegten und planerisch zugrunde gelegten 31.12.2022 hinaus sicherheitstechnisch nicht vertretbar ist.“
Und ganz am Ende, ebenfalls in Fettschrift:
„Eine Laufzeitverlängerung ist aus Gründen der nuklearen Sicherheit abzulehnen.“
Dass die Experten der GRS fachlich beteiligt worden waren, steht nur in der ersten Version des Vermerks. In der zweiten fehlt dieser Hinweis. Gegenüber der Redaktion erklärte Geschäftsführer Uwe Stoll: „Zwischen erstem und zweitem Vermerk gab es keine Einbindung der GRS.“ Mehr wollte er dazu nicht sagen.
Die von Abteilungsleiter Niehaus hineingeschriebene Behauptung, dass nicht einmal eine Kurzzeitverlängerung um wenige Monate sicherheitstechnisch vertretbar sei, war offenkundig falsch. Das zeigt schon der weitere Verlauf der Geschehnisse. Denn zu einem solchen Streckbetrieb ohne neue Brennstäbe konnten sich die Grünen schließlich durchringen – aus Angst davor, dass ein harter Winter zu großflächigen Stromausfällen führen und sie aus der Regierung fegen könnte. Von sicherheitstechnischen Schwierigkeiten war plötzlich keine Rede mehr.
Obwohl politisch voll auf Linie
Und wieder war Robert Habeck der Gekniffene. Obwohl er die AKW-Debatte parteiintern und in der Öffentlichkeit ausfechten musste, bekam er die erste, unverfälschte Version des Vermerks wahrscheinlich nie auf den Tisch. Denn Steffi Lemkes Staatssekretär Stefan Tidow schickte am 3. März nur den neuen, von Gerrit Niehaus umgeschriebenen Vermerk ins Wirtschaftsministerium. Er schrieb dazu an Patrick Graichen: „noch keine förmliche Zulieferung und nur für Dich“.
Graichen machte sich daraufhin selbst ans Werk und entwarf einen fünfseitigen Vermerk zur „Prüfung des Weiterbetriebs von Atomkraftwerken aufgrund des Ukraine-Kriegs“. Er kam darin zum gewünschten Ergebnis: Nach „einer Abwägung von Nutzen und Risiken“ sei eine Laufzeitverlängerung nicht zu empfehlen. Den ersten Entwurf schickte er am 4. März um 21.32 Uhr an Tidow. Der Text strotzte so sehr vor Falschbehauptungen und Unwissen, dass selbst Atomaufsichtschef Gerrit Niehaus, obwohl politisch voll auf Linie, die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen haben muss. Er schrieb noch um 22.57 Uhr an seinen Chef Tidow:
„Lieber Stefan, leider ist die Einleitung insbesondere in der Einleitung juristisch grob falsch. Ich habe das schlimmste versucht zu verhindern. Außerdem kann ich die Aussage, dass notwendige Nachrüstungen im Hinblick auf das Laufzeitende nicht erfolgten, als verantwortlicher Aufsichtsbeamter nicht mittragen. Meine Veränderungen versuchen das abzuschwächen. Viele Grüße Gerrit“
Bevor Staatssekretär Tidow diese wichtigen Korrekturen übernehmen und an Patrick Graichen weiterleiten konnte, hatte dieser seinen fehlerhaften Entwurf schon längst an den Minister geschickt. „Stefan Tidow wird noch ein paar Ergänzungen vornehmen, aber im Grunde kann das dann auch die Basis für die Kommunikation der beiden Häuser nächste Woche sein“, schrieb er dazu am Freitagabend an Robert Habeck. Und der hatte am Wochenende nichts Besseres zu tun, als den im Bürokratendeutsch verfassten Vermerk in einen ausschweifenden Frage-und-Antwort-Text umzudichten. Habeck schickte seine fünf eng beschriebenen Seiten am Samstagnachmittag an Graichen, Tidow und ein paar andere wichtige Mitarbeiter:
„Lieber Patrick, lieber Stefan, ich habe aufbauend auf Eurem famosen Papier ein FAQ gemacht, weil ich glaube, man muss das ERZÄHLEN. Wenn Ihr drüber lesen wollt – alle anderen auch. Ich würde vorschlagen, dass dann morgen 12.00 an die Betreiber zu mailen. Lg R“
In der Folge entspann sich ein reger E-Mail-Wechsel, in dem Habecks Leute überlegten, was sie mit der von ihrem Chef zusammengeschriebenen Erzählung, die sich auf falsche Fakten stützte, machen sollten. Am Ende wurde sie radikal gekürzt, stark umgeschrieben und am 8. März 2022 zusammen mit dem von Graichen und Tidow mehrfach überarbeiteten „Prüfvermerk“ auf der Internetseite des Ministeriums veröffentlicht. Damit, so dachte man innerhalb des Führungszirkels, sei die Atomkraftfrage ein für alle Mal beantwortet. „Dann ziehen wir der Debatte am Dienstag den Stecker und können uns danach auf andere konzentrieren“, schrieb ein Habeck-Mitarbeiter am Sonntagabend, zwei Tage vor dem 8. März, an die Runde.
Eine Niederlage und dennoch ein Sieg
Das war ein Irrtum. Die Debatte kam danach erst richtig in Fahrt. Denn vor allem Bayern, das von drohenden Gasengpässen besonders stark betroffen gewesen wäre, machte Druck.
Nachdem Robert Habeck Mitte Juni 2022 die Alarmstufe des Notfallplans Gas ausgerufen hatte und noch immer behauptete, eine Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke sei weder möglich noch sinnvoll, bat der bayerische Energieminister Hubert Aiwanger Bundeskanzler Olaf Scholz um Hilfe:
„Die jüngsten Äußerungen Ihres zuständigen Bundesministers Herrn Dr. Robert Habeck, MdB, auf dem Sonderenergieministertreffen (…) lassen mich befürchten, dass das diesbezügliche bisherige Nichthandeln der Bundesregierung auf Fehlinformationen aus dem sog. Prüfvermerk vom 7. März 2022 von BMWK und BMUV beruht. (…) Ich appelliere an Sie, von Ihrer Richtlinienkompetenz Gebrauch zu machen und das BMWK und das BMUV anzuweisen, sofort alles Erforderliche in die Wege zu leiten, um den befristeten Weiterbetrieb der bayerischen Kernkraftwerke Isar 2 und Gundremmingen C zu ermöglichen.“
Es dauerte zwar noch dreieinhalb Monate, aber dann kam Kanzler Scholz auf Aiwangers Idee zurück und wies seine beiden Grünen-Minister Habeck und Lemke am 17. Oktober 2022 förmlich an, drei Kernkraftwerke über den Winter hinweg laufen zu lassen. Zuvor hatten sich die vier großen Stromnetzbetreiber in Deutschland nach einem „Stresstest“ dafür ausgesprochen und vor einer Versorgungslücke bei Kälte gewarnt. So wie es Habecks Fachbeamte bereits im Frühjahr geschrieben hatten.
Für die Grünen war die Niederlage dennoch ein Sieg. Denn ihr eigentliches Ziel, eine echte Laufzeitverlängerung um mehrere Jahre und eine Reaktivierung bereits stillgelegter Kernkraftwerke zu verhindern, hatten sie erreicht. Doch wirklich den Stecker gezogen haben sie der Debatte noch nicht. Fünf der sechs letzten deutschen Atomkraftwerke könnten, so ist aus Fachkreisen zu hören, immer noch mit vertretbarem Aufwand wieder ans Netz gebracht werden. CDU und CSU haben das für den Fall eines baldigen Regierungswechsels bereits angekündigt.
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