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Der Verfassungsschutz Niedersachsen warnt vor dem sogenannten Stolzmonat.
09.07.2024
Pauline Voss
Eigentlich soll der Verfassungsschutz Personen beobachten, die eine Gefahr für die Verfassung darstellen – ein Video im Netz sorgt nun aber für Zweifel, ob die Behörde wirklich ihren Kernaufgaben nachkommt.
Der Verfassungsschutz Niedersachsen hat in den sozialen Netzwerken ein Video über den sogenannten „Stolzmonat“ gepostet. Dort wird diese Internet-Aktion als rechtsextrem bezeichnet, im Text zum Video schreibt der Verfassungsschutz, der Stolzmonat sei „demokratiefeindlich und verstößt gegen unser Grundgesetz“.
Zum Hintergrund: Der Stolzmonat ist eine Aktion politisch konservativer und rechter Kreise. Einen Monat lang posten sie im Netz patriotische Bilder und verwenden die Deutschlandflagge für ihr Profilbild. Der Stolzmonat ist wiederum eine Anspielung auf den von der Trans-Bewegung ausgerufenen „Pride Month“. Im „Pride Month“ sollen den gesamten Juni über sexuelle und geschlechtliche Minderheiten wie etwa Transsexuelle oder Nonbinäre medial sichtbar gemacht und dadurch deren gesellschaftliche Akzeptanz gesteigert werden – so zumindest die Behauptung der Trans-Aktivisten.
Kritiker halten den „Pride Month“ vor allem für eine Machtdemonstration, die den Einfluss der Bewegung auf den öffentlichen Diskurs festigen soll. Manche Anhänger des Stolzmonats kritisieren zudem, dass die deutsche Identität durch die Transbewegung gefährdet sei. Eine zulässige Meinungsäußerung, sollte man meinen – doch der Verfassungsschutz Niedersachsen sieht dies offenbar anders.
Videos siehe Link
„Übersteigerter Nationalstolz“
Die Moderatorin des Verfassungsschutz-Videos erklärt: „Eigentlich handelt es sich bei Stolzmonat ja erstmal nur um die deutsche Übersetzung von ‚Pride Month‘. Das sagen auch Teile der queeren Community, die den Begriff Stolzmonat zu dem machen wollen, was er eigentlich sein sollte: Ein Ausdruck, der für Vielfalt, Toleranz und die Stärkung der Rechte queerer Menschen steht. Letztes Jahr landete der Hashtag Stolzmonat zeitweise auf Platz 1 der X-Trends. Allerdings als rechtsextremistischer Kampfbegriff.“
Auch in diesem Jahr, so die Moderatorin, habe vor allem die Neue Rechte zur Teilnahme am Stolzmonat aufgerufen: „Die LGBTQIA+-Community zählt zu den Feindbildern der rechtsextremistischen Szene. Neben der Diskriminierung von queeren Menschen sind Nationalismus, also übersteigerter Nationalstolz bei gleichzeitiger Abwertung anderer Nationen, und die Ablehnung von Werten liberaler Demokratien Kernelemente des Stolzmonats.“ Die Deutschlandflagge werde vereinnahmt, um Vorurteile gegen queere Menschen zu verbreiten und den Eindruck einer großen Gegenbewegung zum Pride Month zu erwecken: „Eine ihrer Botschaften: Queere Menschen gehören nicht zu Deutschland.“
Laut dem X-Konto Stolzmonat 2024 handelt es sich um eine „Initiative der patriotischen Community auf Twitter. Er ist parteiunabhängig und wird nicht zentral organisiert.“ Ziel der Aktion ist es demnach unter anderem, Schwarz-Rot-Gold zu „normalisieren“ und aufzuzeigen, dass Bekenntnis zum Regenbogen nicht alternativlos ist. Tatsächlich mischen sich unter dem Hashtag #Stolzmonat Bilder der Flagge mit Kommentaren, die sich gegen Trans-Aktivismus richten, sowie aggressiven Abschiebeforderungen. Das Spektrum der Äußerungen ist also nicht ansatzweise so homogen, wie der Verfassungsschutz Niedersachsen nahelegt. Auch die „Abwertung anderer Nationen“ lässt sich keineswegs aus allen Beiträgen herauslesen.
„Staatspolitisch verrottet“
In dem Begleittext zum Video auf Instagram und X schreibt der Verfassungsschutz: „Der rechtsextremistische #Stolzmonat ist aufgeladen mit Nationalismus, Diskriminierung und Hass. Er ist demokratiefeindlich und verstößt gegen unser Grundgesetz.“
Der Rechtswissenschaftler Volker Boehme-Neßler sagt dazu: „Der Bürger kann gar nicht gegen die Verfassung verstoßen. Denn die Verfassung ist eine Handlungsanweisung für den Staat, nicht für die Bürger. Sie schützt die Freiheit und die Rechte des Bürgers vor dem Staat.“ Boehme-Neßler betont: „Meinungsfreiheit gehört zu den verfassungsmäßigen Rechten des Bürgers, und sie reicht extrem weit. Es kommt nicht darauf an, ob eine Aussage vernünftig ist. Sogar verfassungswidrige Aussagen sind von der Meinungsfreiheit gedeckt, solange das Strafrecht nicht verletzt wird.“
Auch der SPD-Politiker und Journalist Mathias Brodkorb, Autor des Buchs „Gesinnungspolizei im Rechtsstaat?: Der Verfassungsschutz als Erfüllungsgehilfe der Politik“, kritisiert das Video im Netz mit klaren Worten: „Ok, ok, gebe mich endgültig geschlagen. Dieser Laden ist staatspolitisch offenkundig noch viel verrotteter, als in meinem Buch beschrieben. Und sie merken es nicht einmal mehr.“
Grenzen des Verfassungsschutz-Auftrags überschritten
Auch Boehme-Neßler kritisiert das Video unter staatspolitischen Aspekten: „Ich denke nicht, dass es die Aufgabe des Verfassungsschutzes ist, solche Videos zu verbreiten. Sein Auftrag ist, Informationen zu sammeln und die Öffentlichkeit zu informieren – nicht aber, in die politische Diskussion einzugreifen. Der Verfassungsschutz darf kein politischer Akteur sein. Es scheint, dass der Verfassungsschutz Niedersachsen hier die Grenzen seiner Informationsfunktion überschreitet.“
Wie allumfassend der Deutungsanspruch des Verfassungsschutzes offensichtlich ist, lässt sich schon daran erkennen, dass er im Video definieren will, was der Begriff Stolzmonat „eigentlich sein sollte“. Die von Juristen beklagte Politisierung lässt sich auch beim Verfassungsschutz auf Bundesebene seit einigen Jahren beobachten. Neben der Corona-Pandemie, während der eigens der Begriff der „verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“ geschaffen wurde, um Kritiker der Maßnahmen zu beobachten, ist auch die Transgender-Thematik im Fokus des Geheimdienstes.
Vorsicht, Meme!
So widmete der Verfassungsschutz der „Homophobie und Queerfeindlichkeit“ 2022 in seinem jährlichen Bericht ein eigenes Unterkapitel. Auch in der Broschüre „Rechtsextremismus: Symbole, Zeichen und verbotene Organisationen“ wird das Thema aufgegriffen, dort warnt der Verfassungsschutz unter anderem vor einer Variation des Internet-Memes „Pepe the Frog“: Die gezeichnete Darstellung eines Froschs mit Clownsnase und regenbogenfarbener Perücke transportiert demnach rassistische und transphobe Inhalte und impliziert, dass die „demokratische und pluralistische Gesellschaft […] nur noch mit zynischem Humor zu ertragen sei.“
Zynismus ist laut Verfassung kein Fall für den Geheimdienst. Statt tatsächliche Gefahren für die Demokratie zu beobachten, fokussiert sich der Inlands-Geheimdienst zunehmend auf den politischen Meinungsbildungsprozess – eine Aufgabe, die ihm laut Verfassung nicht zusteht.
Lesen Sie mal, für welche Aussagen man heute vom Verfassungsschutz beobachtet wird