Wie die Maden im Speck Deutschlands Sozialstaat. Leben wie die made im Speck

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Stellen Sie sich einen Chirurgen vor, der mit großer Geste ankündigt, seinen Patienten von einem Tumor zu befreien. Er legt die Handschuhe an, öffnet den Bauch – und näht ihn gleich wieder zu. Mit den Worten „Wir haben viel erreicht, die Operation läuft!“ blickt er stolz in die Runde, während der Patient ächzend aus der Narkose erwacht und sich wundert: War da was? Willkommen in der Bundesrepublik, Abteilung Sozialpolitik.

Kein anderes führendes Industrieland leistet sich einen so komfortablen Sozialstaat wie Deutschland. Schon fast die Hälfte des Bundeshaushalts fließt in Zuschüsse für Rente, Pflegeversicherung, Bürger-, Wohn-, Kinder- und Arbeitslosengeld und viele weitere Leistungen. Jeder Empfänger kann gute Gründe anführen, warum er die Unterstützung verdient, sei es jahrzehntelanges Einzahlen in die Rentenkasse, eine unverschuldete Notsituation oder dauerhafte Bedürftigkeit.

Alles irgendwie gerechtfertigt, und doch nicht mehr zu rechtfertigen. Allein die Verwaltung der Sozialausgaben kostet mehr als 48 Milliarden Euro jährlich. Wohlgemerkt: nicht die Leistungen selbst, sondern nur deren Abwicklung durch die Behörden. Hätte Deutschland nicht die Digitalisierung öffentlicher Dienste jahrelang verschlafen, wäre das Prozedere sicher günstiger, doch den allgemeinen Trend könnten selbst die smartesten Computerprogramme nicht drehen: Die Zahl der Rentner wächst stetig, die Zahl bedürftiger Flüchtlinge und Migranten ist ebenfalls gestiegen, und praktisch alle Bundesregierungen der vergangenen Jahrzehnte haben ihr Heil darin gesucht, Wahlgeschenke zu verteilen – vom Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz bis zur Rente mit 63. Alles willkommene Wohltaten in einer progressiven Gesellschaft, aber alles eben auch: sehr teuer.

Nun steckt das Land tief in der Rezession, mit Amerikanern und Chinesen ist nicht mehr gut Kirschen essen, und das vermeintlich ewige Wohlstandsversprechen entpuppt sich als Trugschluss. Noch wollen viele Bürger die Konsequenzen nicht wahrhaben, doch sie kommen so sicher wie das Amen in der Kirche: Selbst mit einem Riesenschuldenberg für Militär und Infrastruktur muss der Staat künftig mit weniger Geld für Sozialleistungen auskommen. Ökonomen sagen es glasklar, der Bundeskanzler sagt es auch, bei der SPD hingegen empfindet man schon den bloßen Gedanken an Kürzungen als Zumutung. Sozialministerin Bärbel Bas spricht von „Bullshit“, das sagt eigentlich schon alles. Sie hat die Suche nach Reformideen in eine Kommission abgeschoben und deren Mitgliedern die Anweisung gegeben, das gegenwärtige „soziale Schutzniveau“ zwingend zu bewahren. Motto: Wasch mich, aber mach mich nicht nass! Der Etat ihres Ministeriums soll bis zum Jahr 2029 von 190 auf 219 Milliarden Euro wachsen. Das Bürgergeld verursacht jährliche Kosten von 50 Milliarden Euro, Tendenz ebenfalls wachsend.

Seit Jahrzehnten üben sich die Sozialdemokraten in der Kunst des Ankündigens: Kein Parteitag, auf dem nicht „mutige Reformen“ beschworen werden. Kein Wahlkämpfer, der nicht feierlich verspricht, das Land aus dem „Reformstau“ zu hieven. Aber sobald es ernst wird, haben die Genossen die Lobbyisten im Nacken, die Gewerkschaften im Ohr und die bröckelnde Parteibasis im Blick. Dann kriecht die Angst unter die Sakkos, die kalte Angst vor dem Tod der stolzen Partei. Deshalb bevorzugen SPD-Spitzenpolitiker statt eines beherzten Schnitts am staatlichen Operationstisch immer das Pflaster. Statt der Reform immer das Reförmchen.

Die einstige Arbeiterpartei ist zu einer Beschäftigungsgesellschaft für Berufspolitiker geworden, die sich an erster Stelle um ihre Karrieren kümmern. An zweiter Stelle kommt die „Kommunikation“ (schicke Wahlplakate, häufige Talkshow-Auftritte und Instagram-Gedöns), allenfalls drittens geht es um die Sache. Dann spricht man von radikalen Schnitten, beschwört wortreich „mehr Gerechtigkeit“ und „Zukunftsfähigkeit“ – doch wenn es ans Operieren geht, ist das Skalpell plötzlich nicht mehr auffindbar.

Um die eigene Mutlosigkeit zu überspielen, hat man in der SPD die Technik des Nebelkerzenwerfens perfektioniert. Parteichef Lars Klingbeil beherrscht diese zweifelhafte Kunst aus dem Effeff: Er bringt es fertig, sich zur besten Sendezeit ins Fernsehen zu setzen und trotz einer Staatsquote von 49,9 Prozent und eines riesigen Schuldenbergs, den er als Finanzminister mit seinen Koalitionären aufhäuft, auch noch Steuererhöhungen zu fordern. So kann nur einer reden, der zwar die SPD-Führungsakademie absolviert hat, aber nie in einem Beruf abseits der Politik seine Brötchen verdienen musste.

Wie wäre es mit ein bisschen Realitätssinn, ein bisschen Bescheidenheit? Derlei alte Tugenden von Leuten wie Klingbeil zu erwarten, erscheint so aussichtslos wie die Auferstehung Willy Brandts, der nicht nur ein großer Reformer, sondern auch ein vernünftiger Realist war. Die SPD rühmte sich einst als stolze Kämpferin für Freiheit und gesellschaftliche Gerechtigkeit, die den bräsig-reaktionären Staat als Kontrahenten betrachtete, den es zu bändigen galt. Mittlerweile hat sie diesen Staat besiegt und in eine gigantische Umverteilungsmaschine verwandelt: Sie knöpft den Bürgern immer mehr Geld ab, um es nach den Vorstellungen der Funktionäre zu verteilen. Dass dabei immer größere Summen in der Verwaltung versickern, liegt in der Natur der Sache.

Die SPD-Parteikader verhalten sich wie die Maden im Speck: Sie leben selbst gut von den staatlichen Zuwendungen und wissen gar nicht mehr, wie das geht – Eigenverantwortung zu übernehmen, seines Glückes Schmied zu sein. Ließe man Klingbeil und Co. einfach machen, würden sie den Bürgern wohl 100 Prozent des Lohns abluchsen, um noch mehr umverteilen zu können. Na gut, das ist übertrieben. Trotzdem bleibt unterm Strich der Eindruck, dass es der SPD heute weniger um echte Reformen als um Selbstbeschäftigung geht. Sie will weniger das Land verändern als vielmehr den Eindruck erwecken, sie sei schwer beschäftigt. So wirkt es auch vor dem heutigen Koalitionsausschuss mit CDU und CSU, bei dem das ausufernde Sozialsystem im Mittelpunkt steht.

Ja, dieser Text geht hart mit den Sozialdemokraten ins Gericht, das mag mancher Leser gemein finden. Zur Verteidigung sei vorgebracht, dass in vergangenen Tagesanbrüchen auch andere Parteien an den Pranger gestellt wurden. Die CDU bekam immer wieder ihre Fehler vorgehalten, die FDP wurde als Lobbyistentruppe geschmäht, die Fehler der Grünen passen auf keine Kuhhaut, in der AfD rotten sich Demokratiefeinde zusammen. Das kann und muss kritisieren, wer innenpolitische Entwicklungen analysiert.

Zugleich bemüht sich der Tagesanbruch stets um eine konstruktive Haltung, formuliert Vorschläge und entschärft den Ton, wenn andere Medien besonders laut schimpfen. Niemand will nur schlechte Nachrichten lesen, und es ist auch mitnichten so, dass Politiker heutzutage nur Mist bauen. Viele treibt ein aufrichtiger Wille zur Verbesserung der Verhältnisse an, viele nehmen einen anstrengenden Arbeitsalltag auf sich. Leider haben auch viele die Bodenhaftung verloren. Das verdient Kritik, auch in scharfen Worten.

Die Bundesrepublik ist mit so gewaltigen Herausforderungen konfrontiert wie seit Jahrzehnten nicht. Die Entfremdung von den USA und die ideologische Verhärtung Chinas stellen das Exportmodell infrage, Putins Imperialistenregime bedroht den Frieden, die Klimakrise verursacht horrende Kosten, Rechts- und Linksradikale torpedieren den gesellschaftlichen Zusammenhalt. In so einer Lage braucht es mutige Politiker, die Reformen nicht nur ankündigen, sondern auch durchziehen. Die bereit sind, ihre persönlichen Ambitionen hintanzustellen, um dem Wohl heutiger und künftiger Generationen zu dienen.

Solche Politiker sind selten geworden. In allen Parteien. Aber weil man in der SPD das Versprechen von der „Gerechtigkeit“ und „Zukunftsfähigkeit“ besonders gern im Mund führt, wirkt der Befund bei ihr besonders bitter. Ihre Spitzenleute sind permanent in Bewegung, aber kommen nicht vom Fleck. Sie bilden Arbeitsgruppen, beauftragen Gutachten und initiieren Kommissionen – doch am Ende wächst nur die Bürokratie. Erinnern Sie sich an Olaf Scholz? Während er Chef im Kanzleramt war, erhöhte sich die Stellenanzahl dort um zehn Prozent: noch mehr Beamte, noch mehr Referenten, noch mehr Leute, die irgendwelche Papiere schreiben. Passiert ist dann nicht so viel.

In den vergangenen Jahrzehnten hat die SPD entscheidend dazu beigetragen, Deutschland eines der stärksten Sozialsysteme der Welt zu bescheren. In wirtschaftlich guten Zeiten konnte sich die Republik dieses engmaschige Auffangnetz für Millionen Menschen leisten. Nun, in Zeiten der Dauerkrise, der Rezession und der internationalen Bedrohungen, droht die SPD, den Wohlstand zu verspielen, weil sie dringend notwendige Reformen blockiert.

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Wie viele andere Bürger wünsche auch ich mir starke Volksparteien der Mitte, und da gehört die SPD eigentlich dazu. Leider ist sie nach 27-jähriger fast ununterbrochener (Mit-)Regierungszeit zu einer Klientelpartei geschrumpft. Das ist nicht gut, weil das Land dringend beherzte Gerechtigkeitskämpfer braucht. Aber bitte Kämpfer mit Realitätssinn und mit Mut zu echten Veränderungen. Andernfalls bekommen die Geiferer rechts und links noch mehr Zulauf. Das wäre noch schlimmer als eine sterbende Sozialdemokratie.


MeinungVon Florian Harms