Verfassungsrechtler kritisiert nach RKI-Skandal: Corona-Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts „alles Fehlurteile“

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NIUS fragte Volker Boehme-Neßler, wie sich die erwiesene fehlende Unabhängigkeit auf die Rechtsprechung des RKIs auswirkt.

22.08.2024 – 12:42 Uhr

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Felix Perrefort

Die Rechtsprechung zur Corona-Politik basierte auf den Bewertungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) als einer neutralen, wissenschaftlichen Institution. Nun ist nicht mehr zu bestreiten, dass die Regierung die Einschätzungen maßgeblich geprägt hat. Was bedeutet das für die Rechtsprechung? NIUS sprach dazu mit Verfassungsrechtler Volker Boehme-Neßler.

Zu den härtesten Maßnahmen der Corona-Pandemie gehörten nächtliche Ausgangssperren und Schulschließungen, die im Vierten Infektionsschutzgesetz („Bundesnotbremse“) verankert waren. Vergleichbar drastisch griffen berufsbezogene Impfpflichten, Schulschließungen und Maskenpflichten, insbesondere für Schulkinder, in die Grundrechte der Bürger ein. Das Bundesverfassungsgericht segnete all das ab und stützte sich dabei auf die Annahme, dass das RKI ein politisch unabhängiges, wissenschaftliches Institut ist, dessen Einschätzungen sachlich begründet und nicht politisch motiviert sind. 

„Die Einschätzungen des Robert-Koch-Instituts waren keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern politisch verursacht“

Durch die Veröffentlichung der RKI-Files ist nun ans Licht gekommen, dass dem nicht so ist. „Die wissenschaftliche Unabhängigkeit des RKI von der Politik ist insofern eingeschränkt“, so wurde es bereits am 10.9.2021 protokolliert. Lauterbach räumte kürzlich ein, dass Entscheidungen bezüglich des Corona-Gefahrenrisikos für die Bevölkerung politisch beeinflusst sind: „Aufgrund der sehr dynamischen Entwicklung und der Gefahr der Überlastung des Gesundheitssystems entschied das BMG deshalb gemeinsam mit dem RKI, die Risikobewertung für die Gesundheit der Bevölkerung Ende Februar 2022 beizubehalten“, so das Gesundheitsministerium kürzlich.

Auch die Grundrechte von Kindern wurden extrem eingeschränkt.
Auch die Grundrechte von Kindern wurden extrem eingeschränkt.

Verfassungsrechtler Volker Boehme-Neßler kritisiert: „Die Einschätzungen des Robert-Koch-Instituts waren keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern politisch verursacht“. Es wurde stets so getan, als sei das RKI ein „unabhängig arbeitendes Forschungsinstitut“, dabei war es immer eine weisungsgebundene Behörde. „Die Gerichte haben es sich da zu leicht gemacht“, so der Rechtsexperte. Ihm zufolge hätten die Gerichte eine Beweisaufnahme durchführen müssen, in der Fachkundige beider Seiten zu Wort hätten kommen müssen, das heißt: nicht nur die der Maßnahmen-Verteidiger, sondern auch die ihrer Kritik. Die Urteile des Verfassungsgerichts seien „Fehlurteile, weil die Richter sich nur auf das RKI gestützt haben und es als unabhängigen Sachverständigen behandelt haben. Und das war das RKI ja überhaupt nicht.“ 

Viele Menschen fragen sich: Wie wirkt sich die Tatsache, dass das RKI nachweislich nicht unabhängig war, rückwirkend auf die Rechtsprechung aus? 

Die Antwort des Verfassungsrechtlers fällt möglicherweise für viele ernüchternd aus: „Unser Rechtssystem ist so gebaut, dass auch Fehlurteile rechtskräftig bleiben.“ Dem liege der Gedanke zugrunde, dass große Rechtsunsicherheit herrschen würde, sollten Gerichtsurteile allzu leicht zu kippen sein. In diesem Fall gäbe es immer nur vorläufige Urteile – bis jemand einen Fehler entdeckt. „Unser Rechtssystem nimmt hier lieber Fehlurteile, die Bestand haben, in Kauf als dauerhafte Unsicherheit. Rechtssicherheit geht vor Gerechtigkeit“, so Boehme-Neßler. 

Lauterbach hat eingeräumt: RKI entschied nicht unabhängig.
Lauterbach hat eingeräumt: RKI entschied nicht unabhängig.

Spezifisch für das höchste Gericht gilt: „Das Bundesverfassungsgericht kann sich nur selber korrigieren, niemand kann seine Urteile aufheben.“ Es könne bei künftigen Entscheidungen seine Bewertungen der Corona-Maßnahmen ändern – das sei dann eine Korrektur im Nachhinein, aber letztlich ohne Folgen. 

In eng begrenzten Ausnahmefällten gilt jedoch: „Man kann Verfahren wieder aufnehmen, wenn sich die Sachlage ändert. Das klassische Beispiel wäre hier der Mordfall, bei dem ein Verfahren wieder aufgenommen wird, weil sich die Sachlage geändert hat.“ Für Corona-Verfahren kann das bedeuten, dass Strafverfahren wegen der Erkenntnisse durch die ungeschwärzten RKI-Dokumente kurzfristig neu verhandelt werden. Bei der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts besteht diese Möglichkeit allerdings nicht.

NIUS fragte den Verfassungsrechtler: Was bedeutet all das für die Aufarbeitung? Bleibt dann nur die Möglichkeit, einer künftigen Politik, die ähnlich wie die Corona-Politik übermäßig in Grundrechte eingreift, vorzubeugen? „In gewisser Weise stimmt das. Leider sei aber auch künftig wieder sehr viel möglich, wenn man die Menschen in Panik versetzt“, so die nicht allzu optimistische Perspektive des Verfassungsrechtlers. Dennoch bestehe durch die Aufarbeitung die Hoffnung, „dass der Rechtsstaat künftig besser funktioniert.“

„Maximales Desinteresse“, „Katastrophe“, „Hat sich nicht gekümmert“: Impfgeschädigter klagt Paul-Ehrlich-Institut an

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